Familie verschieden

Erschienen 2022 in WahlFamilie – Zusammen weniger allein, Fotomuseum Winterthur/Christoph Merian Verlag

Textauszug

Familien, das sind diese Menschen, deren Wochenende in zwei Lastenfahrrädern Platz hat.

Familien, das sind die Menschen, bei denen das Mittagessen warm ist. Abends gibt es nur Käse und Brot. Und mittags Chips, wenn niemand da ist, nur ein Kind oder viele von denen.

Familien, das sind müde Menschen, die für das Boarding zum EasyJet-Flug 374 nach Malaga anstehen und deren Jüngste schon jetzt so weint, dass sie sich keine Illusionen machen, wie die anderen Fluggäste über sie denken. Manche dieser Menschen sind auch auf dem Flug 773 nach Istanbul oder 293 ab Istanbul, nicht immer ist es Urlaub. Für alle schon gar nicht.

Familien trifft der erste Satz von Anna Karenina. Familien sind, im Zweifel, schuld.

Familien hinterlassen Zeichen. Wie die hohe Stirn, das breite Becken, die Trichterbrust ziehen sich die Traumata durch die Generationen – alles, was davor war, jede Geschichte von früher, auch worüber man nicht sprechen kann. Alles davon lagert sich ab. In der einen Schwester verkalkt es, in der anderen köchelt es vor sich hin, bis Familie als verdickte Sauce prägt, für wen man sich hält. Familien sind die Hölle der anderen.