Lallende Männer

Boys should cry, November 2023

Alkoholismus ist nicht nur eine Volks- sondern auch eine Männerkrankheit. Ein Kinderfussballtrainer mit einer Wodkaflasche ist für unseren Kolumnisten Anlass, über das eigene Trinkverhalten nachzudenken – ein halbes Jahr nach dem letzten Bier.

«Hab’s nicht verstanden, was ist mit dem SUBWOOFER?» «Nei, ob ihr ALKOHOLFREIES IPA habt.» Vielleicht war es Einbildung, aber ich glaubte, dass ich in dem Moment den Subwoofer und damit das Konzert von Pet Owner übertöne. Der Raum schien still.

So oder so: Die sanfte Musik liess mich dann abdriften, bis ich mich berauscht fühlte. Nach dem Konzert war ich vom Alltagsstress wohl ebenso weit weg, wie der Typ auf dem Trottoir. Der, so tönte es, gibt praktisch jeden Abend Kinderfussballtraining, nur heute stolpert er zufällig alleine mit einer zu zwei Dritteln geleerten Wodkaflasche durchs Quartier. Er redete mit uns, also vor allem mit einer Kollegin. Er wollte und wollte nicht gehen und versuchte zu flirten: «Du hast zwar Runzeln, aber vom Lachen, so find ich’s schön.»

Die Situation war – fand auch meine Kollegin hinterher – nicht bedrohlich, aber an der Schwelle ins Ungute: In seinen Äuglein lag was Aggressives, sobald er das Gefühl hatte, wir schenken ihm nicht unsere ungeteilte Aufmerksamkeit.

Alkohol. Alkohol macht abhängig. Alkohol ist verbunden mit starker Fremd- und Selbstgefährdung. Gemäss der Stiftung Sucht Schweiz ist er für 8,4 Prozent aller Todesfälle im Land verantwortlich, von der Krebserkrankung bis hin zum Suizid. Überproportional oft scheinen Männer ein Problem mit dem Trinken zu haben: 2021 waren 68 Prozent der Eintritte in die Alkoholsuchthilfe Männer; auch unter den Hospitalisierten schwingen sie auch oben aus.

Dass mir als Jugendlicher nie der Magen ausgepumpt werden musste, war wohl Zufall. Ich erinnere mich an einige Blackouts. «Wir haben mit dem Trinken mal angefangen und vielleicht hören wir irgendwann auf», grölte ich bei den Toten Hosen mit, da war ich vielleicht 12. Aufgehört habe ich dann irgendwann, wie vier Jahre früher mit dem Rauchen: ungeplant. Als die Gewohnheit gebrochen war, entwickelte ich den Ehrgeiz oder die Sturheit, jetzt konsequent zu sein.

Ich hatte kein Alkoholproblem. Oder halt so, wie es normalisiert ist: In meinen Zwanzigern war ich zufrieden mit mir, wenn ich an zwei Abenden pro Woche nichts getrunken habe. Gleichzeitig machte ich mir Sorgen um jene, bei denen es in manchen Wochen keinen alkoholfreien Abend gab.

Als ich vor etwa zwei Jahren «Die Klarheit» von Leslie Jamison las, hatte ich noch immer das Gefühl, kein Alkoholproblem zu haben. Die US-amerikanische Autorin geht auf über 600 Seiten ihrer eigenen Sucht nach, den Süchten ihrer Familie und den Süchten anderer Künstler:innen vor ihr. Nein, ich war nie wochenlang in Bolivien, habe bis spätnachmittags im Schatten geschlafen und mich nach dem Aufstehen wieder schläfrig getrunken – während meine Familie glaubte, dass ich das Land entdecke, wie es Jamison im Buch beschreibt.

Jamisons Schilderungen lesen sich schmerzhaft, doch ihr Buch lohnt sich nicht deswegen. Vor allem legt sie frei, dass lange ein Bild «des Künstlers» dominierte, der zum Leben unfähig ist und gerade dadurch – zum Beispiel wegen seinem Alkoholismus – eine tiefere Einsicht in die Gesellschaft und die Menschen um ihn hat. Mit der Dekonstruktion dieser Romantisierung konnte ich viel anfangen. In meiner Komatrinker-Jugend hat mir der Spruch «Write Drunk, Edit Sober» Hoffnung gegeben, irgendwo am Boden des nächsten Glases verstecke sich etwas Erzählenswertes. Viele, viele unlesbare Notizbücher liegen im Keller, die ich als Jugendlicher betrunken vollkritzelte.

Alle wissen, dass Alkohol gefährlich ist. Trotzdem trinken fast alle. Um weniger oder um mehr zu spüren. Vielleicht auch, um sich zu schaden.

Zumindest beim Rauchen hatte ich das: In einer schlechten Welt wollte ich bewusst ungesund leben. Manchmal habe ich das Gefühl, mein früheres Ich würde mich dafür verurteilen, wieviel Kapazitäten ich inzwischen dafür habe, um zu mir zu schauen. Doch wenn mein früheres Ich lallend in einer Eckbank lag, hat das der Welt auch nichts gebracht. So privilegiert wie mein Leben ist, scheint das Betäuben irgendwie auch falsch.